
Ein Bergschüler „zu Gast“ im Heilbad

Im Jahr 1956 war es soweit. Der Schulabschluss war geschafft und es sollte eine solide Ausbildung für eine lebenslange und gutdotierte Arbeitsaufgabe folgen. Aber wie, wenn der Vater durch viele Auslandsaufenthalte ohne Rentenansprüche früh verstorben ist und die Mutter kein Einkommen hat? Nur der Bergbau bot in dieser Zeit bei gutem Lohn eine kostenlose Ausbildung.
Trotz harter Arbeit eine lukrative Gelegenheit! Drei Jahre Bergbau-Praktikum und der Hauerschein mit Schießberechtigung waren die Voraussetzung für den zukünftigen Besuch einer deutschen Bergschule (Privatschulen der Deutschen Bergbau-Gesellschaften). Der Hauerschein und die Empfehlung des Bergbaubetriebes lagen vor und eine Bewerbung an die Berg- und Hüttenschule in Clausthal konnte erfolgen.
Dafür war aber dann erst einmal die Bergvorschule in Obernkirchen mit ihren täglichen, dualen Arbeits- und Schul-Einsätzen als versteckte Eignungs- und Belastbarkeitsprüfung zu besuchen. Die endgültige Aufnahme in die Bergschule konnte man nur nach monatlichen positiven Eintragungen des Bergwerk-Betriebsführers im Pflicht-Tagebuch und einer Aufnahmeprüfung zu schaffen.
Hat man diese Hürden absolviert, dann wurde der zukünftige Bergschüler in Clausthal an der Bergschule eingeschrieben. Die duale Ausbildung geht weiter, einen Tag Bergwerksarbeit, am nächsten Tag Schulunterricht in Clausthal. Die erste Freude legte sich schnell, wenn man erfährt, dass der Einsatz in einem Bergwerk im Harzvorland und in diesem Fall auf der Grube Fortuna in Liebenburg im Harzvorland erfolgen soll.
Jeden zweiten Tag, einschließlich dem Samstag, Arbeit im Bergwerk bzw. in die Bergschule mit dem Bus in den Oberharz, und am Wochenende möchte man die entgegengesetzte Bahnfahrt zum Heimatort durchführen. Schnell lernt man als nicht ortsansässiger Bergschüler gegenüber dem Betriebsführer und Steigern den gravierenden Unterschied zu den einheimischen Bergschülern und dabei auch Fußballspielern im Ortsverein kennen. Die mussten ja am Wochenende für Liebenburg Fußball spielen!

Auch der Unterschied von zu bezahlenden Ammongelit zur Beschaffung des kostenlosen Donarit ist für die ortsfremden Bergschüler im aufzufahrenden „ Örtchen“ und die gezielten Arbeitseinsätze am Sonnabendnachmittag (Fortfall der Heimfahrt) sehr fraglich. Da kommt ein Aushang am schwarzen Brett in der Bergschule recht. Das Erzbergwerk Friederike in Bad Harzburg sucht Bergschüler als Hauer mit Schießgenehmigung zu einem beachtlichen Schichtlohn. Eine Probefahrt mit dem Motorrad zeigt hinter Oker ein wunderschönes Panorama auf die Harzer Berge und Bad Harzburg. Hier kann man das sicher gut aushalten.
Der Bergingenieur Wilhelm Castendyck (Bergschüler der Bergschule Siegen) entdeckt um 1858 die sedimentäre, vorwiegend oolithische Eisenerzlagerstätte (Jura – Lias) in der Gemeinde Bündheim im „Amt Harzburg“, dem heutigen Bad Harzburg. Mit dem Bremer Konsul H.H. Meier vom Norddeutschen Lloyd entwickelt er den Abbau und die Verhüttung dieser Erzlagerstätte.
Das Erzbergwerk Friederike wurde dann zusammen mit der Grube Hansa und der dazu gehörenden Mathildenhütte um 1861 in Betrieb genommen. Die Lagerstätte bildet sich aus ca. acht einzelnen Lagen, wovon nur drei bis vier abbauwürdig sind. Das macht die Gewinnung des Erzes durch Scheibenbruchbau mit Tonauffüllung im alten Mann sehr schwierig. Viele Fossilien, insbesondere große Ammoniten, sind im Erzkörper sehr auffällig.

Die Vorstellung beim Betriebsführer „Karlchen“ Ecke, einem ehemaligen, rauen Bergschüler der Bergschule Eisleben mit vielen Ecken und Kanten, verläuft „von Mann zu Mann“ noch recht friedlich. Ohne lange zu zögern, erfolgt die Einteilung über den Schichtsteiger zu einem Ortsältesten mit einem der unterschiedlichen Abbaue.
Gleich die Probe aufs Exempel, Ladearbeit allein in der Abbaukammer, Firste festmachen und Erz laden und kippen. Zugleich die Vorgabe, mindestens 23 „Teckel“, eine feine Umschreibung des speziellen Förderwagens mit Kippklappe im Abbau, und diese Leistung pro Schicht.
Am Schluss einige Löcher bohren, zusammen mit dem Ortsältesten mit Donarit laden. Alle Schüsse im Abbau fallen dann am Schichtende gemeinsam.
Jeder Abbau hat zwischen vier und sechs Kumpel – Hauer, Lehrhauer und Bergarbeiter. Diese arbeiten je einzeln in drei bis vier Abbaukammern und ein bis zwei Streckenvortrieben. Das heißt, jeder Kumpel ist in seinem Arbeitsbereich allein auf sich gestellt. Das gemeinsame Gedinge (Akkord) betrifft den ganzen Abbau und es gibt für Streckenvortrieb, Ausbau bzw. Abbau extra, sowie der Ladetätigkeit des Eisenerzes pro Wagen 1,00 DM zu verdienen.

Einige Arbeiten, wie zum Beispiel das lebensnotwendige Berauben und Festmachen der Firste (Decke) werden nicht bezahlt. Der Sprengstoff-Einkauf wird vom Gedinge abgezogen. Das am Monatsende gemeinsam verdiente Geld wird nach einem Verteilschlüssel unter den im Abbau beteiligten Kumpel aufgeteilt. Der Hauer mehr und der einfache Bergmann weniger.
Bei ca. 23 Teckel bekommt der Hauer etwa 18 bis 20 DM Schichtlohn, aber durch verschiedene Einflüsse von Abbau zu Abbau ein unterschiedliches Gedinge. Bei strengen, arbeitssamen Ortsältesten müssen es mindesten 28 Teckel sein, der Schichtlohn war dann aber auch um die 23 DM/Schicht.
Diese Ortältesten nahmen aber nicht jeden Bergmann oder Bergschüler mit. Wer keine 30 Teckel bringt, den bekommt der Schichtsteiger für andere Zwecke zurück. Zugleich erhält der Bergschüler eine schlechtere Note im Bergschul-Tagebuch!
Da das Berauben der durch die Sprengungen gelockerten Firste, oft mit einer Öffnung zum „Alten Mann“, (unkontrollierte natürliche Tonverfüllung des durch den Erzabbau entstandenen Hohlraum) nicht bezahlt wurde, war der Effekt deshalb nur oberflächlich und letztlich immer sehr gefährlich. So musste man ständig das Hangende und den gefährlichen „Alten Mann“ im Auge behalten. Man sieht, harte Arbeit, guter Lohn, allerdings ständige Gefahr von oben. Bei dem Leistungsdruck nicht für jederman geeignet.
Aber Bad Harzburg wäre nicht Bad Harzburg, wenn es da nicht auch eine besondere, gute Seite gegenüber anderen Bergbau-Orten geben würde. Hotels, Pensionen, Kureinrichtungen, Tanzlokale, Gaststätten, Lehranstalten, Kneipen und Bars an vielen Stellen. Dazu nette Mädchen von Einheimischen, Kurgäste, von der Logesschule mit angehenden Gymnastiklehrerinnen und der Nitsch-Schule für Übersetzerinnen und anderen Ausbildungszweige. Da war also echt was los, für jeden Geschmack das Richtige.
Was Untertage zu kurz kam, konnte Übertage je nach Bedarf nachgeholt werden. So sah also der Tagesplan eines Bergschülers damals aus: Morgens Bergarbeit oder Bergschule, allerdings mit unterschiedlichen Abschlusszeiten. Im Prinzip aber doch am Spätnachmittag Abonnementessen in der Härkestube, dann auf ein weiteres Bier zum Rebstock oder, oder.

Wenn es dann langsam dunkel wurde, auf ins Cafe Raeck, ein bekanntes Tanzlokal für Jung und Alt. So manches Paar hat sich dort fürs ganze Leben gefunden, dann war aber Schluss mit dem freien Bergschülerleben. Nach all dem ging es noch auf einen Absacker in die Lilliputbar.
Nach einer Spätschicht ging es allerdings noch gegen 23 Uhr in die Ponydiele, wo fast nur Bergleute bis in die tiefe Nacht Bier und Schnaps zu Genüge tranken. Die Bergleute konnten ja ausschlafen, die Bergschüler ohne Schlaf zuerst zu einem gemeinsamen Frühstück bei den Ibbenbürer-Bergschülern in die Bäckerei Dietrich mit frischen Brötchen und ihrem mitgebrachten Hausgeschlachteten.
Dann gleich weiter mit dem schuleigenen Bus zur Bergschule. Das war dann nicht unbedingt die beste Grundlage für einen guten Schultag, denn am Abend ging alles wieder von vorn los. Also „Gute Nacht“ bei jeder Gelegenheit…
Da bis 1957 noch die Engländer als Besatzungsmacht und deren Erholungssuchende in ihrem „Leave Center“ in Bad Harzburg waren, ergab sich auch so manche spätabendliche Begegnung. So ging es mir, nach der Bergschule im Bergmanns-Kittel, beim Tagesabschluss in der Lilliputbar. Ich war an dem Abend dort der einzige Bergschüler. Fast nur Engländer in ihren Khaki-Uniformen.
Kaum stand mein erstes Bier auf dem Tresen, kamen die „Tommys“ und hauten mir auf die Schulter: „Du SS“ – Schlägel und Eisen auf dem schwarzen Bergmanns-Kittel war für Briten eine klare Sache. Schon ging die Prügelei los. Einer gegen alle!
Nur die Tommys hatten die Rechnung ohne den Wirt gemacht. Der Mann hinter der Theke war der Geliebte der Bardame und einer meiner Kumpel im Bergwerk, Spitzname „Paller König“, ein Kraftprotz, wie aus dem Bilderbuch. Ratzfatz, einige Engländer flogen der Reihe nach aus der Kneipe und es war Ruhe.

Das man auf dem Bahnsteig des Bad Harzburger Bahnhofes von den Kurgästen als Eisenbahner angesprochen und um Auskunft gebeten wurde, war schon beinahe normal. Ich hatte zwischenzeitlich die nette und hilfsbereite Harzburgerin Helga beim Tanz im Cafe Raeck kennengelernt.
Mit ihrer herzlichen Familie mit weiteren Töchtern und Landwirtschaft als Nebentätigkeit konnte man es gut ertragen. Jährliche Schlachtefeste und eigener Gemüse- und Kartoffelanbau sorgten für eine bis dahin nicht gekannte Kalorien-Zufuhr.
Kein Wunder, es endete mit einer urigen, bergmännischen Hochzeitsfeier in der Scheune. Der trauende Pfarrer kannte auch die bergmännischen Gefahren und verwendete den Trauspruch: „Wenn der Horst täglich ins tiefe, schwarze Loch einfahren muss, soll sich Helga mit Gottvertrauen und Glück auf alles andere verlassen – Glückauf!“
Ich lag von nun an „an der Kette“ und holte nach dem Bergschulbesuch im Kittel meine Frau jeden Nachmittag von der Arbeit im Rathaus ab. Die Mitarbeiter hingen an den Fenstern, um diese Neuigkeit zu sehen.
Bad Harzburg hat aber auch ein bekanntes Gestüt mit guten Deckhengsten und uniformierte Pferdepfleger. So kam es, wie es kommen musste. Als Gespött ihrer Kollegen wurde ich wegen der ähnlichen Uniform zum „Celler Deckhengstpfleger“ ernannt, der angeblich auf dem Bad Harzburger Vollgestüt arbeitet. Das war zu viel, den Bergschüler-Kittel habe ich deshalb dann im Stadtgebiet tunlichst zu Hause gelassen.

Das Studium wurde 1959 als Steiger und späterer Bergbauingenieur beendet. Das Erz-Bergwerk Friederike stellte 1963 den Förderbetrieb ein. Eine über 100-jährige Bergbau-Geschichte in Bad Harzburg wurde damit beendet. Das Industrie-Gelände inmitten einer reinen Wohnsiedlung wurde für nachfolgende Betriebe ausgeschrieben.
Aber Bad Harzburg ließ mich nicht mehr los. Nach kurzer Zeit als Steiger auf dem Kalibergwerk Hansa in Empelde/Hannover wurde in der Kurstadt ein Tiefbau-Ingenieur für die Stadtverwaltung gesucht. Der damalige Stadtdirektor stellte bei der Auswahl und Einstellung kurz und bündig fest: „Tiefer als jemand, der Bad Harzburg auch als Bergmann von Untertage aus so gut kennt, muss danach auch ein guter Tiefbauingenieur sein“.
Also wurde aus dem früheren Clausthaler Bergschüler und Steiger bzw. Bergingenieur dann erst einmal für 20 Jahre ein städtischer Tiefbau-Ingenieur in Bad Harzburg. Dass dieser danach später auch noch für weitere viele Jahre der Kurdirektor und vieles andere mehr davon in diesem schönen Kurort wurde, ist eine ganz andere Geschichte.
Horst Woick 2019







